Quo vadis, cinema italiano?

 

von Doris Senn

 

Seit 2022 steht Giorgia Meloni als erste Frau dem Land der Trikolore als Ministerpräsidentin vor. Sie, die mit «presidente» – also in der männlichen Form – angesprochen werden möchte, vertritt mit ihrer Partei, den «Fratelli d’Italia», ein rechtspopulistisches Programm und eine konservative Gesellschaftspolitik. Der von ihr berufene neofaschistische Kulturminister Gennaro Sangiuliano wetterte mit Vorliebe gegen die linke Kulturhegemonie und plädierte dafür, die «kulturellen Narrative» zu ändern – bis er vor etwas mehr als einem Monat peinlichst über eine Affäre mit einer Influencerin stolperte und abtreten musste. Dabei hatte er grade vor, eine Kommission einzusetzen, die Filmgeschichten um die «Italianità», um Vaterland und Familie besonders auszeichnen sollte …

 

Um einen Widerhall der italienischen Regierung in den aktuellen filmischen Narrativen zu finden, ist es wohl noch zu früh. Doch hat Meloni in ihrer kurzen Amtszeit schon einiges dafür getan, um ihre Macht – auch im Film – institutionell zu verankern. So übt sie schon seit geraumer Zeit Druck auf das Staatsfernsehen RAI aus – durch Postenbesetzungen oder Zensurmassnahmen wie etwa das Streichen der Sendungen des Anti-Mafia-Autoren Roberto Saviano («Gomorra»). In dieselbe Richtung geht, dass Meloni vor einem Jahr dem renommierten römischen Centro Sperimentale di Cinematografia (Filmschule und nationales Filmarchiv) die Autonomie entzog und der politischen Exekutive unterstellte. Den protestierenden Studierenden schlossen sich so namhafte Persönlichkeiten des Films wie Marco Bellocchio, Paolo Sorrentino, Luca Guadagnino, Alba Rohrwacher oder Nanni Moretti an. Vergeblich. Im letzten Frühjahr nominierte Meloni dann den Journalisten und Berlusconi-Eiferer Pietrangelo Buttafuoco als Präsidenten der Kunstbiennale Venedig, zu der auch das renommierte Filmfestival gehört.

 

In den aktuellen Filmen sucht man umsonst nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem rechtsgerichteten Kurs des Landes. Dabei durchdringt der Rechtspopulismus Italien nicht erst seit der Wahl Melonis und könnte durchaus schon seit längerem in der aktuellen Filmszene des Landes einen Nachhall finden. Doch dem ist nicht so. Im Gegenteil. Ein gewisser Hang zur leichten Komödie, zu Dramen um persönliche Konflikte, zum Genre oder zum historischen Film sind eher angesagt. Die kleine Filmauswahl von «Cinema italiano», die vom italienischen Kultur- und vom Aussenministerium unterstützt wird, zeugt davon. Die fünf Filme zeichnen sich insbesondere durch neue, vor allem weibliche Stimmen aus, was sich in der Themensetzung niederschlägt: Es geht um weibliche Selbstermächtigung, um Frauenfiguren, die sich behaupten – gegen die diskriminierenden Strukturen der Gesellschaft, aber auch gegen selbst gesetzte Schranken und persönliche Ängste.

 

So zeichnet die Filmemacherin Lyda Patitucci mit ihrem Kinodebüt «Come pecore in mezzo ai lupi» einen düsteren Genrefilm rund um eine Polizeiagentin, die im Kampf gegen die serbische Mafia an ihre persönlichen Grenzen gerät: Stefania ist ebenso souverän und skrupellos im Beruflichen wie orientierungslos im Privaten und repräsentiert eine starke, aber auch kontroverse Hauptfigur. Ebenfalls von einer Protagonistin in Krise erzählt Maria Sole Tognazzi – Tochter des legendären Komödiendarstellers Ugo Tognazzi – in ihrer Dramödie «Dieci minuti». Der Protagonistin Bianca scheint das Leben grade in jeder Beziehung zu entgleiten. Dafür sucht sie Hilfe bei einer Psychiaterin (Margherita Buy) – die sie dazu drängt, ihren schützenden Kokon zu verlassen und das Leben neu zu entdecken. Gespielt wird Bianca von der zurzeit äusserst gefragten Barbara Ronchi, im letzten Jahr für ihre Rolle in «Rapito» von Marco Bellocchio ausgezeichnet.

 

Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang hin- und hergerissen ist Marta Savinas Protagonistin im historischen Drama «Primadonna». Savinas Kinodebüt ist einer ebenso mutigen wie bedeutenden Figur der italienischen Frauenemanzipation gewidmet: Franca Viola, die sich Mitte der 1960er-Jahre in Sizilien nicht nur weigerte, ihren Vergewaltiger zu heiraten, sondern ihn auch vor Gericht brachte. Damit rüttelte sie an der frauenverachtenden Gesetzgebung zugunsten des «matrimonio riparatore», das bei Eheschliessung nach einer Vergewaltigung dem Täter Straffreiheit zusagte. Das historische Ereignis wurde bereits 1970 von Damiano Damiani mit Ornella Muti verfilmt. Es findet hier – unter einem leicht irritierenden Titel – eine Neuinterpretation mit Claudia Gusmano in ihrer ersten grossen Kinorolle.

 

Margherita Buy, seit vielen Jahren die bevorzugte Filmpartnerin an der Seite von Nanni Moretti, aber auch Akteurin in Titeln vieler anderer italienischer Regiegrössen, bildet die heimliche Mitte, um die sich diese «Cinema italiano»-Ausgabe dreht: Nicht nur tritt die Starschauspielerin, die bereits mehr als 70 Titel in ihrer Filmografie aufweist, Tendenz steigend, in zweien der ausgewählten Filme auf («Dieci minuti», «Romeo è Giulietta»). Sie präsentiert mit «Volare» auch noch ihr eigenes Regiedebüt, um darin die Hauptrolle als Anna B. zu spielen und ihr Leben als Schauspielerin zu spiegeln – mit einem Augenzwinkern an Moretti als Meister des autofiktionalen Kinos. «Volare» erzählt, wie Anna B. mit ihrer grossen Flugangst Karriere und Familienglück gefährdet – um schliesslich über ihren Schatten zu springen …

 

Ebenfalls einer starken weiblichen Hauptfigur verpflichtet ist der einzige Film eines Regisseurs in der Auswahl. «Romeo è Giulietta» von Giovanni Veronesi ist die Adaption der Turbulenzen rund um eine Aufführung von Shakespeares Bühnenstück. Der Akzent auf dem «e» im Titel verrät den Dreh. Veronesis Werk entpuppt sich als erfrischende Crossdressing-Komödie mit Anklängen an frühe Vorbilder aus den 1930er-Jahren wie «Victor and Victoria» oder «Queen Christina». Die unterhaltsam-leichtfüssige Umsetzung verdankt sich nicht zuletzt den überzeugenden schauspielerischen Leistungen von Pilar Fogliati als Vittoria/Otto und Sergio Castellitto als exzentrisch-narzisstischer Theaterregisseur.

 

Die fünf Filme bieten einen kleinen, aber durchaus emblematischen Querschnitt durch das aktuelle italienische Filmschaffen. Wo das italienische Kino in Zukunft hingehen wird, darauf sind wir mehr als gespannt.

 

Doris Senn hat Romanistik und Filmwissenschaft in Zürich und Rom studiert. Sie schreibt seit 1989 über Film, war von 1993 bis 1999 im Frauenkino Xenia engagiert und von 2000 bis 2020 Co-Leiterin und Co-Kuratorin des queeren Filmfestivals Pink Apple in Zürich / Frauenfeld. Soeben ist ihr Buch «Frauenkino Xenia – Zürich» (Schüren Verlag) erschienen.

 

Die Vorführungen finden im Rahmen von «Cinema italiano», einem Projekt von Cinélibre, dem Ministero della Cultura – Direzione Generale Cinema e Audiovisivo und Made in Italy (Rom) statt.

 

Die diesjährige Auswahl des «Cinema italiano» steht ganz im Zeichen starker Frauenfiguren und spiegelt damit einen bemerkenswerten Trend im zeitgenössischen italienischen Kino wider, in dem sich zunehmend weibliche Filmschaffende als starke kreative Köpfe hervortun. Erstmals stammen vier der fünf Filme von Regisseurinnen, und alle Werke stellen weibliche Protagonistinnen in den Mittelpunkt. Dabei reicht die Bandbreite von der turbulenten Komödie, über einen feministischen Polizeithriller bis zu psychologischen und zeitgeschichtlichen Dramen und ermöglicht einen einzigartigen Blick auf weibliche Perspektiven, die überraschen und berühren.
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