Open-Air in der Lokremise: Summer in the City

Eine unwiderstehliche Kombination

 

von Gerhard Midding

 

Vermutlich läuft man in keiner Stadt so leicht Gefahr wie in New York, sich im Sommer eine Erkältung zu holen. Ich spreche aus Erfahrung. Eines Junimorgens machte ich mich auf den Weg zu einem Interview. Obwohl es nicht einmal zehn Uhr war und die Sonne sich noch hinter dichten Wolken versteckte, war ich nach wenigen Blocks bereits völlig durchgeschwitzt.

 

Als ich aus der feuchten Schwüle in das Büro trat, in dem ich erwartet wurde, erlebte ich einen Temperaturschock. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren und es herrschte Eiseskälte. Mein Frösteln amüsierte meinen Gesprächspartner ungemein, denn er war ein altgedienter New Yorker: Sidney Lumet. Den Hundstagen, die in seiner Heimatstadt schlimmer sind als anderswo, hat er einen grossartigen Film gewidmet: «Dog Day Afternoon». In seinem Drama über eine Geiselnahme in einer Bank fällt in einem neuralgischen Moment die Klimaanlage aus. Wie sehr hätte ich mir das an diesem Morgen gewünscht!

 

Wohlweislich hatte Lumet den Film im September gedreht. Vor der Bank weht deshalb ein ungewohnt scharfer Wind. Am ersten Drehtag war es so kalt, dass der Regisseur seinen Schauspieler:innen Eiswürfel in den Mund legen liess, damit man ihren Atem nicht sah. Lumet erzählte mir, dass er die Schweisstropfen, die über die Gesichter von Al Pacino, John Cazale und ihre Geiseln rinnen, selbst hergestellt hatte. Seit «12 Angry Men» traute er den Maskenbildner:innen nicht mehr, denn er fand, dass deren Schweiss zu künstlich aussah. Er schwor seither auf eine Mischung aus Glyzerin und Wasser.

 

«Dog Day Afternoon» führt mustergültig vor, weshalb New York ein grossartiger Schauplatz für Sommerfilme ist. Das Leben spielt sich in dieser Jahreszeit meist auf den Strassen ab. Dort eskalieren die Konflikte, etwa wenn verschiedene ethnische Gruppen aufeinandertreffen wie in Spike Lees «Do the Right Thing». Nicht von ungefähr sind bei dem Begriff Melting Pot hohe Temperaturen im Spiel. Es ist eine Metropole der Vielfalt und der urbanen Vielgestaltigkeit. «Can a Song Save Your Life?» von John Carney trägt dem Rechnung, wenn ein Album an ganz unterschiedlichen Orten in der Stadt aufgenommen wird.

 

Im Gegenzug beweisen die New Yorker:innen eine ungeheure Findigkeit, wenn sich ihre Stadt in einen Glutofen verwandelt. Einen Hydranten aufzuschrauben, damit ganze Strassenzüge voller spielender Kinder in kühles Nass getaucht werden, ist ein Klassiker dieser Selbstermächtigung. Besonders einfallsreich zeigt sich Marilyn Monroe in «The Seven Year Itch». Ihren Nachbarn besucht sie in Billy Wilders Film nicht zuletzt deshalb so oft, weil seine Wohnung über eine funktionierende Klimaanlage verfügt. In der berühmtesten Szene stellt sie sich auf einen U-Bahnschacht, damit der Luftzug ihr Kleid hochwirbeln lässt. Ihre Unterwäsche wiederum bewahrt sie im Kühlschrank auf. Ein Wunder, dass diese Kabinettstücke der Frivolität durch die Zensur kamen.

 

Mit dieser Jahreszeit geht ein Hochgefühl einher. Die Versprechen des Frühjahrs reifen und gedeihen. Das Blut pulsiert schneller. Dies ist keine Zeit für Stubenhocker:innen. Sie spornt vielmehr zu Unternehmungslust und Leichtsinn an. Im Leben wie im Kino stellt sich eine ungekannte Bereitschaft ein, etwas anderes auszuprobieren. Das Leben wird plötzlich unvorhersehbarer: Die Gelegenheiten, die der Zufall bietet, wollen ergriffen werden. Aus einer Laune kann etwas entstehen, das das Leben verändert. Julie Delpy und Ethan Hawke tun in «Before Sunrise» jedenfalls gut daran, ihrer Intuition zu folgen. Sie geben kurzerhand ihre ursprünglichen Pläne auf, um in Wien auf Entdeckungsreise zu gehen. Die fremde Stadt zeigt sich von ihrer besten Seite. Für deren Sehenswürdigkeiten haben die Zwei zwar auch einen Blick, aber vor allem wollen sie einander entdecken, wollen die Gefühle, Erfahrungen und das Selbstverständnis des oder der Anderen erkunden. Richard Linklater verhängt einen Zauber über ihre Begegnung. Einen solch unbeschwerten Spaziergang durch die Nacht – wo es scheint, als würde die Stadt nur ihnen gehören – unternimmt man in keiner anderen Jahreszeit.

 

Am Ende, als die Zwei wieder ihrer eigenen Wege gehen, kehrt Linklaters Film an die Schauplätze zurück, die sie gemeinsam besuchten. Nun sind sie menschenleer, eine Ahnung von Vergänglichkeit schleicht sich in sie hinein. Der Sommer mag zwar Erfüllung verheissen, aber unweigerlich werden ihm die Zweifel des Herbstes folgen. Er ist eine Parenthese, eine Auszeit, die genutzt werden muss. Früher, in den 1950er- und 1960er-Jahren, war er die Zeit, in der die Ehemänner zurückbleiben müssen, während ihre Familien in die Ferien fahren. Aber auch sie wollen Urlaub nehmen vom Trott ihres Daseins. Mithin gehen Tom Ewell (in «The Seven Year Itch») und Charles Aznavour (in «Paris au mois d’août») wieder auf Freiersfüssen. Die Frauen, die ihre romantische und erotische Fantasie beflügeln (Marilyn Monroe, Susan Hampshire), sind allerdings auch unwiderstehlich.

 

Natürlich macht es einen Unterschied, ob die Filmfiguren sich in ihrer «eigenen» oder einer fremden Stadt aufhalten. Reisende nehmen die Hitze eher in Kauf. Sie erliegen der Fülle von Sinnesreizen, mit denen der Urlaubsort lockt. Das Pensum der Sehenswürdigkeiten muss zwar absolviert, darf aber rasch zur Nebensache werden. Auch für sie bergen die Ferien ein romantisches Versprechen. Venedig wurde nie so prachtvoll in Szene gesetzt wie in «Summertime». Aber David Lean zieht der touristischen Besitznahme der Lagunenstadt einen Boden der Melancholie ein. Katharine Hepburn wird sich hier ihrer Einsamkeit umso schmerzlicher bewusst. Sie begreift sie als einen Makel, den es tunlichst zu verbergen gilt. Zugleich hat die resolute Puritanerin ihre Prinzipien. Der lebensbejahende Trubel der Stadt bedeutet für sie gleichermassen betörendes Schauspiel und Anfechtung. Welches Glück, dass sie auf den schwärmerischen Rossano Brazzi trifft!

 

In «Vicky Cristina Barcelona» werden die Gewissheiten zweier junger Amerikanerinnen ebenfalls auf heilsame Weise erschüttert. Die heimatlichen Sitten werfen sie in Woody Allens iberischer Eskapade eingangs nur zögerlich über den Haufen. Aber dem Flair sommerlicher Entgrenzung können sie nicht lange widerstehen. Die kanadische Bibliothekarin, die es in «Paris pieds nus» von Dominique Abel und Fiona Gordon an die Seine verschlägt, ist streng genommen keine Touristin. Zwar braucht auch sie dringend einen Tapetenwechsel (daheim peitschen unablässig Schneestürme), aber vor allem hat sie eine Aufgabe: ihre verschwundene Tante zu finden, die partout nicht ins Altersheim ziehen will. So beginnt eine ulkige Schnitzeljagd durch ein Paris, das so beschaulich und übersichtlich wirkt wie ein Dorf. Die Figuren laufen sich ständig über den Weg und was verloren geht, wird bald wiedergefunden. Jacques Tati hätte seine helle Freude gehabt.

 

So wunderlich geht es freilich nur selten zu. Gelassenheit ist ein kostbares Gut in sommerlichen Stadtfilmen. Diese Kombination setzt vielmehr eine unvergleichliche Intensitätsmaschine in Gang. Die Tage dauern länger; sie scheinen ereignisreicher. Vielen Filmen in unserer Reihe genügt eine Spanne von weniger als 24 Stunden, um ihre Geschichten zu erzählen. Die Verdichtung gewinnt in ihnen eine je eigene Dringlichkeit. In «Dog Day Afternoon» verketten sich die Ereignisse zusehends dramatischer; zugleich erzählt er von einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet. Auch «Do the Right Thing» betrachtet ein spannungsvolles Gemeinwesen wie unter einem Brennglas. Die Triebfeder von «Die Hard with a Vengeance» ist ein atemloses Tempo. In «Before Sunrise» herrscht demgegenüber gelassene Eile. «Zur Sache, Schätzchen» schliesslich verlangt vom Publikum nicht mehr, als den Hauptfiguren beim Tagediebstahl zuzuschauen. May Spils’ Komödie nimmt fulminant spätere Slacker Movies vorweg. Antriebslosigkeit ist hier eine Tugend und das Erschlaffen besitzt einen ganz eigenen Elan.

 

Auch wenn die erzählte Zeit nicht komprimiert ist, wird die sommerliche Stadt zum Druckkessel. In dem Polizeifilm «Stray Dog» beweist Akira Kurosawa sein einzigartiges Talent, eine Spannung zwischen Witterung und Drama herzustellen – von der ersten Einstellung an, die einen japsenden Hund zeigt. Der Asphalt kocht, die Körper werden angespannter und die Charaktere immer nervöser. Jede Brise ist willkommen. Der lang erwartete Regen setzt der fieberhaften Suche zweier unterschiedlicher Polizisten ein kathartisches Ende.

 

In dem Druckkessel wird auch verrührt, was unvereinbar scheint. In Riccardo Milanis «Come un gatto in tangenziale» ziehen sich die sozialen Gegensätze an und muss sich nebenbei die grosse europäische Politik gegen die Alltagswirklichkeit behaupten. Doris Dörrie stellt in «Freibad» die Migrationsgesellschaft auf den Prüfstand. Sie lässt urdeutsche «Kartoffeln» (namentlich zwei späte Feministinnen) zusammenprallen mit einer Gruppe stolzer Burka-Trägerinnen. Im Wechselspiel von Provokation und Gegenschlag rückt die kulturelle Toleranz in immer weitere Ferne. Aber wer weiss, ob aus der Fehde nicht doch ein geteiltes Gefühl von Zugehörigkeit in dem exklusiven Frauenbad entstehen kann? Vorsichtshalber streckt die Rädelsführerin Andrea Sawatzki vor dem Finale ihre Beine im Kühlschrank aus – nicht nur New Yorker:innen macht die brennende Hitze erfindungsreich.

 

Gerhard Midding ist freier Autor und Filmjournalist für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, Filmbulletin) sowie Radio (rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat).

 

Fünfzehn Meisterwerke quer durch die Filmgeschichte entführen vom lauschigen Rondell der Lokremise nach New York, Tokio, Paris, Wien, Barcelona, Rom, Venedig und München – in die hitzeflirrenden Metropolen der Welt. Im Sommer fühlt sich das Leben leichter an, die schönsten Tage des Jahres verheissen Pause vom Alltag, Aufbruch und Veränderung. Mit den steigenden Temperaturen lockern sich Gewänder und Gefühle, doch nur einige Grade zu viel, dann erhitzen sich die Gemüter und die Gereiztheit entlädt sich mit mitunter katastrophalen Folgen. So erzählt das Sommerkino von Liebe, Lust und Seitensprung, aber auch von Ausnahmezuständen.