Männer zwischen Glanz und Elend

Marcello Mastroianni zum Hundertsten

 

von Alexandra Seitz

 

Wer ist er? Ist er der elegante Hallodri, der auf der Via Veneto jeden kennt? Ist er der verkrachte Intellektuelle, der Schriftsteller, der nicht (mehr) schreibt? Ist er der hilflos die Frauen anbetende Junge? Der gleichgültig grausame Ehemann? Ist er noch melancholisch oder schon resigniert? Ist er müde von den Aufregungen oder von den Enttäuschungen des Lebens? Und wenn er im Zentrum steht, steht er dann nicht eigentlich am Rand? Ist sein arrogantes Nichtstun also im Grunde Ohnmacht?

 

All dies ist er, all dies drückt seine Präsenz aus – und doch ist hier nur von einer einzigen Figur die Rede. Das mag dann auch belegen, mit welchem Kaliber von Schauspieler wir es zu tun haben. Marcello Rubini heisst der Gesellschaftsreporter, der sich in Federico Fellinis «La dolce vita» aus dem Jahr 1960 durch das nächtliche Rom treiben lässt und tagsüber der hässlichen Wahrheit seiner Wirklichkeit aus dem Weg zu gehen versucht, erfolglos. Marcello Mastroianni heisst der, der ihn lebendig werden lässt, ihn zur Ikone macht, nicht zuletzt in jener Szene des gemeinsamen Bades mit Anita Ekberg in der Fontana di Trevi kurz vor Morgengrauen, wenn er ihre Schönheit nicht fassen kann und ehrfürchtig das Wasser versiegt. Ein Moment für die Ewigkeit in einem Meilenstein der Filmgeschichte.

 

Weit über hundert Figuren verlieh der Schauspieler, der im Theater wie im Film gleichermassen zu Hause war, im Laufe seines unermüdlich tätigen Lebens Gestalt. Wo soll man da anfangen? Wie sich nähern dem Riesenwerk dieses Quasi-Urgesteins nicht nur der italienischen, sondern vielmehr der europäischen Kinematografie des 20. Jahrhunderts? Eine wunderbare Gelegenheit dazu bietet «Marcello Mastroianni: mi ricordo, sì, io mi ricordo», der am Rande der Dreharbeiten zu Manoel de Oliveiras (damals 88 Jahre alt) «Viagem ao Princípio do Mundo», Mastroiannis letztem Film, entstanden ist. Ein Film fleuve, gewebt aus Erinnerungen und Werkausschnitten, prall gefüllt mit Anekdoten und Einblicken, Analysen und Einsichten. Arg dünn sieht er da mitunter aus und seine Hände zittern, und doch ist Mastroianni von einem lebensfreudigen Strahlen erfüllt und einer neugierigen Freundlichkeit – so dass es einen zu Tränen rührt, wenn man ihn inmitten der Filmcrew seinen 72. Geburtstag feiern sieht, wissend, dass er das Jahr nicht überleben wird. Ein Epitaph und ein Vermächtnis, dessen vertrauensvoller, intimer Ton sich der Tatsache verdankt, dass Regisseurin Anna Maria Tatò Mastroiannis letzte Lebensgefährtin war. Verheiratet war und blieb er bis zu seinem Tod mit der Schauspielerin Flora Carabella, die er in der Theaterkompagnie von Luchino Visconti, in der er erste Bühnenerfahrungen sammelte, kennengelernt hatte. Mit ihr hatte er auch eine Tochter, Barbara; eine weitere, Chiara, entstammt seiner Beziehung mit Catherine Deneuve. Am glücklichsten sei er, sagte Mastroianni einmal, mit Faye Dunaway gewesen – die wiederum hat ihn in ihren Memoiren als «die Liebe meines Lebens» bezeichnet.

 

Marcello Vincenzo Domenico Mastroianni wurde am 28. September 1924 in der Gemeinde Fontana Liri, Provinz Frosinone, Region Latium geboren. Vater Urbano war Zimmermann, Mutter Ida entstammte einer gutbürgerlichen jüdischen Familie, einer seiner Onkel war der Bildhauer Umberto Mastroianni, sein jüngerer Bruder Ruggero machte sich als Editor insbesondere der Filme von Fellini und Visconti einen Namen. Die Familie lebte zunächst in Turin, liess sich dann in Rom nieder. Eine Weile wollte Marcello Architekt werden, dann faszinierte ihn die Schauspielerei und liess ihn nicht mehr los; langwierig und mühsam gestalteten sich seine ersten Jahre mit Auftritten als Komparse und in kleinen Rollen oder mit grösseren Rollen in unbedeutenderen Filmen, bis er 1950 in Giacomo Gentilomos «Atto di accusa» Aufmerksamkeit erregen konnte. 1957 vertraute ihm Visconti die Hauptrolle in «Le notti bianche» an, in der Zeit dazwischen spielt er in gut zwei Dutzend Filmen mit. 1958 feiert er mit «I soliti ignoti» von Mario Monicelli einen beachtlichen Erfolg. Der internationale Durchbruch kommt dann endlich zwei Jahre später mit Fellinis «La dolce vita». Mit Fellini wird Mastroianni eine lebenslange Arbeitsfreundschaft verbinden, auch mit Visconti, mit Vittorio De Sica und mit Marco Ferreri wird er mehrmals erfolgreich zusammenarbeiten.

 

Mit dem Weltruhm kommt das Etikett, gegen das sich Mastroianni Zeit seines Lebens zur Wehr setzen wird. Die US-amerikanische Fachpresse, mal wieder von keiner tieferen Einsicht behelligt, verpasst ihm den Sticker «Latin Lover» – der sich selbst heute noch als «Spitzname» und «Markenzeichen» in der Internet Movie Database verzeichnet findet. Tauglich wäre der Begriff allenfalls, wenn man ihn ergänzte um «in der Krise» oder «auf dem Prüfstand». Denn freilich eignet sich das Etikett hervorragend, um sich daran abzuarbeiten, ihm auf den Zahn zu fühlen, dazu konträre Entwürfe zu liefern, es zu erweitern, zur Gänze oder in Teilen zu verwerfen. Dieser Aspekt webt durch Mastroiannis unüberschaubares, vielfältiges Œuvre den roten Faden: Eindimensionale Männer gibt es darin nicht.

 

Im gleichen Jahr, in dem Marcello R. das süsse Leben bitter wird, er zwar hinter jedem Rock her ist, bei weitem aber kein skrupelloser Liebhaber, erlebt «Il bell’Antonio» von Mauro Bolognini (nach einem Drehbuch, an dem Pier Paolo Pasolini mitschrieb) seine Uraufführung. Die Titelfigur markiert das Gegenteil des Konzeptes italienischer Virilität, ihre Impotenz fordert nicht nur die rigiden Rollenerwartungen speziell des sizilianischen Machismo heraus, sondern auch die Verblasenheit einer kirchlichen Sexualmoral, die den Vollzug der Ehe über die Gattenliebe stellt. Im Jahr darauf gibt Mastroianni gemeinsam mit Jeanne Moreau in Michelangelo Antonionis «La notte» ein aneinander müde gewordenes Ehepaar, das die Liebe verloren hat. Moreau mag schöner durch diese Nacht irren, zum Ausgleich verleiht Mastroianni der Irritation Tiefe und Nuancen. Immer wieder verlieren seine Männerfiguren im Liebesrausch erst den Überblick und dann die Moral, zugleich gewinnen ihre Charaktere an Komplexität. Das macht sie nicht unbedingt sympathischer, aber glaubwürdig.

 

Wie Domenico Soriano in De Sicas «Matrimonio all’italiana» (1964), der Geschäfts- und Lebemann, der jahrzehntelang eine Beziehung zur (ehemaligen) Prostituierten Filumena Marturano unterhält, schliesslich aber eine Jüngere heiraten will – ein abschreckendes Musterbeispiel für die Doppelmoral und den Dünkel der Gutsituierten, von Mastroianni mit Sinn für den komischen ebenso wie den abstossenden Effekt verkörpert. Ihm zur Seite mit Temperament und Leidenschaft Sophia Loren, mit der zusammen er eine Weile das Traumpaar des italienischen Kinos bildete. Doch auch all die anderen tollen Schauspielerinnen (und schönen Frauen), mit denen gemeinsam zu spielen Mastroianni die Ehre hatte – neben den Erwähnten Claudia Cardinale, Romy Schneider, Anouk Aimée, Monica Vitti u.v.a.m. – lässt er glänzen, indem er mit Vollkommenheit gestaltete unvollkommene Männer neben sie stellt. Männer, die, weil sie den Frauen verfallen, auch den Boden unter den Füssen verlieren: Wie der arme Maurer Oreste in Ettore Scolas Gesellschaftssatire «Dramma della gelosia» (1970), den der Verlust seiner geliebten Adelaide vom klassenkämpferischen Weg ab- und in den Ruin treibt. Oder der Advokat Nino Monti im Mysterythriller «Fantasma d’amore» von Dino Risi (1980), dem eine Wiederbegegnung mit seiner verschwunden geglaubten grossen Liebe die eigene Wirklichkeit ins Wahnhafte entrückt.

 

Der Schmerz des alten Lehrers und Hobbyimkers Spyros aber, Titelheld von Theo Angelopoulos’ «Der Bienenzüchter» (1986), sitzt tiefer. Dort, wo eine existenzielle Sehnsucht sich nie erfüllt. Allein ist er unterwegs, fährt mit seinen Bienenvölkern übers Land, folgt dem «Weg der Blumen», genügt sich selbst. Bis sich ihm eine junge Anhalterin aufdrängt, die erst nur stört und dann doch reizt – und ihn erst recht nicht retten kann. Die wenigen Worte, die sich diesem Spyros nur widerwillig entringen, sind an zwei Händen abzuzählen. Doch das, was Mastroianni in seiner Figur zum Ausdruck kommen lässt, könnte einen russischen Roman füllen.

 

Gestorben ist Marcello Mastroianni am 19. Dezember 1996 in Paris, beigesetzt wurde er auf dem Cimitero Campo Verano in Rom. Als die Nachricht von seinem Tod die Ewige Stadt erreichte, liessen die Verantwortlichen die Fontana di Trevi abstellen und schwarz verhüllen.

 

Alexandra Seitz ist freie Filmkritikerin und lebt in Berlin.

 

In über 150 Filmen hat Marcello Mastroianni seine grenzenlose Wandlungsfähigkeit unter Beweis gestellt und ein halbes Jahrhundert europäischer Filmgeschichte mitgeschrieben. Mit seiner unübertroffenen Leinwandpräsenz, seinem melancholischen Blick, seinem zärtlichen Charme und einer fast beiläufigen Eleganz galt er als Inbegriff des Latin Lovers – und war doch weit mehr als das. An der Seite der schönsten Frauen seiner Zeit prägte er das Bild des italienischen Mannes, das er wie kein anderer in all seinen widersprüchlichen Facetten auszuloten verstand. Mit einer Auswahl seiner schönsten Rollen verneigen wir uns vor dem Jahrhundertschauspieler.